Sonntag, 18. Mai 2003: Behinderteninitiative: Erläuterungen von Daniel Hadorn - Bitte lesen!

Kommentar von Daniel Hadorn/SGB zu der Behinderteninitiative



In der neuen Schweizer Bundesverfassung (in Kraft seit 1.1.2000) steht: niemand darf wegen einer Behinderung diskriminiert werden.

Der Bundesrat hat ein Gesetz gemacht: das Behindertengleichstellungsgesetz (Abkürzung BehiG). Am 13.12.2002 haben National- und Ständerat dieses Gesetz angenommen.

Aber die Behinderten sind mit diesem BehiG nicht zufrieden. Denn es hat viel zu viele Lücken. Darum haben die Behinderten Unterschriften gesammelt für eine Initiative. Diese Initiative "gleiche Rechte für Behinderte" verlangt eine Ergänzung des BehiG. Am 18. Mai 2003 wird abgestimmt.

Alle Gehörlosenverbände (Anmerkung G. Maier: darunter der Gehörlosen Club St. Gallen) fordern Sie auf, unbedingt "ja" zur Initiative zu stimmen.

Denn auch die Gehörlosen werden in der Schweiz immer noch stark diskriminiert. Und sie können sich nicht oder fast nicht wehren. Das BehiG hilft nicht viel weiter. Es braucht mehr!

In der EU und in den USA haben Behinderte und Gehörlose viel bessere Möglichkeiten, sich zu wehren. Der Schutz der Gehörlosen (und anderer Behinderten) vor Diskriminierungen in der Schweiz ist armselig schwach. Es ist Zeit, dass sich das bessert.

Es geht bei der Initiative um alle Behinderten. Ich spreche hier bewusst nur von den Problemen der Gehörlosen.




Einige Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung:

1)
Ein Gehörloser arbeitet in einer mittelgrossen Firma. Sein Chef sagt: "ich kann Dir nicht gleich viel Lohn zahlen wie einem Hörenden. Es braucht viel mehr Zeit, bis Du verstanden hast." Dieser Gehörlose bekommt nur 80% von einem Hörenden-Lohn. Dabei arbeitet er besser als viele Hörende: Hörende schwatzen im Gang, telefonieren privat am Arbeitsplatz, schwatzen in den Büros. Der Gehörlose nicht. Er hört nicht schwatzen, versteht kein Schweizerdeutsch, kann nicht telefonieren. Er arbeitet mehr als Hörende und verdient weniger. Wie kann er sich wehren? Überhaupt nicht! Sozialarbeiter, Gewerkschaften, alle haben probiert, mit dem Chef zu sprechen. Keine Chance! Der Gehörlose muss entweder bleiben oder eine andere Stelle suchen. Andere Stellen zu finden ist heute fast unmöglich.

Das BehiG hilft überhaupt nicht! Private Arbeitsplätze sind vom BehiG gar nicht gedeckt. Lohndiskriminierung am Arbeitsplatz - Dutzende von Gehörlosen werden von rücksichtslosen Chefs in der Schweiz ausgenutzt, niemand kann etwas dagegen machen.

Erst mit der Initiative gibt es eine Chance, dass Gehörlose solche Chefs verklagen können.

2)
Ein Gehörloser bekommt in seiner Firma Weiterbildungskurse. Er sagt dem Chef: "ich möchte für die Weiterbildung einen Gebärdensprach-Dolmetscher bestellen." Der Chef wird böse und sagt: "in meiner Firma kommt keiner in Affensprache dolmetschen!!!" Dabei hätte die IV den Dolmetscher bezahlt! Wenn ein Chef keine Dolmetscher am Arbeitsplatz erlaubt: Was kann der Gehörlose dagegen machen? Nichts! Was hilft das BehiG gegen solche Diskriminierungen: nichts, genau wie im Beispiel oben: private Arbeitsplätze sind nicht gedeckt vom BehiG.

Auch hier hilft nur die Initiative weiter!

3)
Ein Gehörloser möchte eine Weiterbildung an einer hörenden Schule machen. Dolmetscher würde die IV bezahlen. Die Schule sagt: "wir wollen keinen Gehörlosen aufnehmen." Wie kann sich der Gehörlose wehren? Gar nicht! Auch das BehiG hilft nicht! Mit dem BehiG könnte der Gehörlose höchstens probieren, eine Entschädigung von maximal Fr. 5'000.- zu erklagen. Das ist ein lächerliches Taschengeld. Wir Gehörlosen wollen die Schule besuchen und das Diplom machen, nicht mit Fr. 5'000.- auf die Strasse gestellt werden! Das BehiG hilft hier nicht ("Zugang zu Dienstleistungen" - kein Klagerecht auf Beseitigung der Diskriminierung, nur Klage auf Entschädigung von höchstens Fr. 5'000.-, und auch nur bei "Diskriminierungen", d.h. schweren Benachteiligungen, gar keine Entschädigung bei leichten Benachteiligungen).

Auch hier hilft nur die Initiative weiter!

4)
Ein ewiges Problem bei Gehörlosen: es hat viel zu wenig Gebärdensprach-Dolmetscher (deutsche Schweiz: 30 Teilzeiter; zum Vergleich: Norwegen 200 Voll- und 450 Teilzeiter, Schweden sogar 2000 Ausgebildete, Voll- und Teilzeiter zusammengerechnet). Ohne Dolmetscher können die meisten Gehörlosen keine Ausbildung an höheren hörenden Schulen machen. Hier hilft das BehiG überhaupt nicht weiter.

Die einzige Hoffnung ist die Initiative.




Viele Politiker sind gegen die Initiative. Vor allem Wirtschaftspolitiker und die SVP. Logisch, diskriminierende Chefs wollen natürlich keinen Schutz für Behinderte. Die SVP hat viele konservativ-ländliche Leute, die viele und oft komplett falsche Vorurteile gegen Behinderte haben.

Viele sagen: die Initiative ist zu teuer. Das ist eine bequeme, faule Ausrede für geizige Chefs. Einen Dolmetscher in die Firma hineinlassen kostet GAR NICHTS! Einen Gehörlosen an eine Schule lassen kostet auch gar nichts! Es braucht nur etwas guten Willen! Die Initiative verlangt Gleichstellung ganz klar nur, wo es "wirtschaftlich zumutbar" ist. Kleine Betriebe mit nur wenig Angestellten und null Geldreserven müssen also gar keine Angst haben.

Gut ausgebildete Behinderte sind besser integriert in die Gesellschaft und Arbeitswelt. Gut ausgebildete Behinderte belasten die IV weniger! Sonderschulen, Heime und geschützte Werkstätten sind viel teurer!

Alle Gehörlosen (und andere Behinderte) brauchen seit Jahrzehnten mehr Rechte, um sich gegen ungerechte Diskriminierungen wehren zu können.

Wir danken zum Voraus allen, die für uns ein "Ja" (am 18.5.2003) in die Urne legen!


(Text mit freundlicher Genehmigung von Daniel Hadorn publiziert)


Ereignisdatum: Sonntag, 18. Mai 2003; Publikationsdatum: Montag, 31. März 2003
Quelle oder Autor: Daniel Hadorn