Freitag, 2. September 2011: Tagblatt 2.9.2011: Seine Welt ist still, er ist es nicht

Der Gehörlosenclub St.Gallen feiert heute und morgen sein 50-Jahr-Jubiläum. Präsident des Organisationskomitees ist Raduolf Bivetti. Der 61-Jährige ist gehörlos – von seiner Leidenschaft, dem Sport, hat ihn dies nie abgehalten.

Raduolf Bivetti ist Experte im Beobachten, im Emotionen erkennen und im Deuten der Körpersprache. Bivetti ist gehörlos – und er ist Sportfan. Was liegt da näher als beides miteinander zu kombinieren und einem Sportclub für Gehörlose beizutreten? Das hat der heute 61-Jährige bereits vor 45 Jahren getan. Heute ist Bivetti der OK-Präsident für das 50-Jahr-Jubiläum des Gehörlosen-Clubs St. Gallen am Wochenende.

LIPPENLESEN UND MIMIK
Nicht das Amt als OK-Präsident ist Raduolf Bivettis Hauptbeschäftigung, sondern sein Job als Laborant bei der Empa. Längst haben sich die anderen Mitarbeiter an seine Gehörlosigkeit gewöhnt. Ein Kollege begrüsst ihn am Empfang, hebt die Hand, winkt und spricht ein tonloses «Hallo, wie geht es?» Ungewöhnlich vielleicht für Aussenstehende, für Eingeweihte ist es Alltag.

Die Kommunikation mit Bivetti funktioniert – mit Zeichen, mit Worten, durch Lippenlesen, mit ausdrucksstarker Mimik und mit Gebärden. «Um die Grundkenntnisse der Gebärdensprache zu lernen, brauchen Hörende mindestens ein Jahr Zeit», sagt Ehefrau Esther, die seine Gebärden beim Treffen übersetzt. Denn trotz der vielen Hilfsmittel ist es für Ungeübte schwierig, auf Anhieb alles richtig zu verstehen, die Gebärden zu deuten und seine Worte zu verstehen.

Die Kommunikation war auch der Grund, weshalb Raduolf Bivetti als Jugendlicher vom Handballclub St. Otmar zum Gehörlosenclub St. Gallen wechselte. «Es ist fast unmöglich, sich in einer grossen Gruppe hörender Menschen verständigen zu können, da hat man kaum eine Chance», sagt er. «Mit einem einzigen Gegenüber ist es einfacher.»

VORFREUDE AUF DIE TURNIERE
Die Verständigung ist während des 50-Jahr-Jubiläums kein Problem. Rund 200 Gehörlose messen sich hier in Fussball-, Schach-, Kegel- und Jassturnieren miteinander. Zwei Jahre hat Raduolf Bivetti zusammen mit dem Organisationskomitee in Vorbereitung und Organisation des Jubiläums investiert.

«Jetzt bin ich froh, dass es endlich losgeht – auch wenn ich als OK-Präsident keine Zeit zum Mitspielen haben werde.» Er müsse aufpassen, dass das Programm rund ablaufe und alles koordinieren. Raduolf Bivetti hat Routine in solchen Dingen. 30 Jahre lang hat er im Vorstand des Gehörlosen-Clubs St. Gallen mitgearbeitet, 13 Jahre lang das Gehörlosenzentrum Habsburg in St. Gallen geleitet, das ihm besonders wichtig ist. Neben einem Treffpunkt werden dort auch Kurse in Gebärdensprache angeboten. Der Gehörlosenclub St. Gallen ist zwar 50 Jahre alt, von Problemen bleibt aber auch er nicht verschont.

ZU WENIG JUNGE MITGLIEDER
«Sorgen bereitet uns der Nachwuchsmangel. Die Jungen haben heute weniger Interesse, einem Club beizutreten als früher», sagt Raduolf Bivetti. «Sie kommen höchstens noch zum Fussballspielen.» Im Club gibt es weniger Frauen als Männer. «Ich habe Glück gehabt und meine Ehefrau dort kennengelernt», sagt Bivetti – was beweist: Ein Ort, um interessante Menschen zu treffen, ist der Club allemal.


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Ereignisdatum: Freitag, 2. September 2011; Publikationsdatum: Samstag, 10. September 2011
Quelle oder Autor: Nina Rudicki